Architektur und Wahrnehmung

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“…Dass die Architektur etwas Unteilbares sei. Mensch und Architektur in der Wahrnehmung.”
Prof. Willem-Jan Beeren, in: Mensch + Architektur, 105/106 / 2020, S. 22-29. Verlag Fördergesellschaft Internationales Forum Mensch + Architektur e.V. Dresden

Was ist Architektur? Diese Frage beschäftigt uns von Anfang an des Architekturstudiums an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Im Einstiegsmodul „Mensch, Architektur, Gesellschaft“ und insbesondere in den Veranstaltungen des Modulbereichs „Architektur und Kunst“ widmen wir uns übend, erlebend und denkend dieser Frage. Dabei entsteht ein Pendelschlag zwischen Produktion und Rezeption, Expression und Impression, einer Grundbewegung, die allem Entwerfen zugrunde liegt.

In seinem Buch „Architektur Erlebnis“ beschreibt Steen Eiler Rasmussen eine Begebenheit mit einem Bauherrn: „Ich sollte einmal einem Mann einen Entwurf zu seinem Haus erklären. Als er die Zeichnungen betrachtete, sagte er abwehrend: ‚Ich habe nun einmal einen Schnitt nicht gern.‘ Er war eine zartbesaitete Natur. (…) Es kann (…) sein, daß seine Abneigung gegen den Schnitt von der richtigen Ansicht stammte, daß die Architektur etwas unteilbares sei.“[1]

Wie soll man etwas studieren, was im Grunde „unteilbar“ ist? Denn im Studium ist es unerlässlich, sich dem Ganzen in Schritten und Teilaspekten zu nähern, will man es schließlich zu einer wie auch immer gearteten Meisterschaft bringen. Schon Goethe ließ Mephisto im ersten Teil von Faust die berühmten Worte sagen: „Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben / Sucht erst den Geist herauszutreiben, / Dann hat er die Teile in seiner Hand, / Fehlt, leider! Nur das geistige Band.“[2]

Nun formuliert Rasmussen weiter: „Man soll nicht erwarten, genau erklären zu können, was sie ist (die Baukunst, Anm. des Verf.) – die Grenzen sind unbestimmt. Kunst soll überhaupt nicht erklärt werden, sie soll wahrgenommen werden – man soll sie erleben, um sie zu verstehen.“[3]

In diesen Worten steckt eine Methode, die wir auf das Studium der Architektur anwenden: Erleben, um zu verstehen. Das bevorzugte Mittel, um das Erleben anzuregen, ist dabei die eigene künstlerisch-gestalterische Tätigkeit: Im Erleben der eigenen schöpferischen Tätigkeit wird das Erzeugte verstanden, in anderen Worten: Im übenden Entwerfen von Architektur wird Architektur erlebt und verstanden.

„Es ist Gründonnerstag. Ich sitze in der langen Loggia der Tuchhalle. Vor mir das Panorama des Platzes mit Häuserfront, Kirche und Monumenten. Die Wand des Cafés im Rücken. Die richtige Dichte von Menschen. Ein Blumenmarkt. Sonne. Es ist 11 Uhr vormittags. Die gegenüberliegende Platzwand liegt im Schatten, wirkt angenehm bläulich. Wunderbare Geräusche: Nahe Gespräche, Schritte auf dem mit Steinplatten belegten Platz, leichtes Gemurmel der Menge (keine Autos, kein Motorenlärm), ab und zu entfernte Baugeräusche. Vögel, schwarze Punkte, fliegen eifrig und freudig, so kommt es mir vor, ein kurzwelliges Linienmuster in die Luft. Die beginnenden Feiertage haben die Schritte der Menschen bereits verlangsamt, so scheint es. Zwei Nonnen, lebhaft gestikulierend, gehen quer über den Platz; leichtfüßig, ihre Hauben wehen im Wind. Jede trägt eine Plastiktasche. Die Temperatur ist angenehm frisch und warm zugleich. Ich sitze auf einem gepolsterten Sofa aus bleichgrünem Samt. Die Bronzefigur auf dem hohen Sockel vor mir auf dem Platz dreht mir den Rücken zu und schaut wie ich auf die zweitürmige Kirche. Die zwei Türme der Kirche haben ungleiche Helme, beginnen unten gleich und werden gegen oben hin individueller. Einer ist höher und hat eine um die Helmspitze gelegte Goldkrone.“[4]

Unter der Überschrift „Die Magie des Realen“ zitiert Peter Zumthor aus einem seiner Notizbücher. Was hier geschrieben wird, ist konkrete Architekturerfahrung: Weniger eine formale Beschreibung eines Gebäudes, eines Raumes, eines Platzes als vielmehr die Interaktion, die Choreografie, die durch die baulichen Rahmenbedingungen entsteht. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Architekturerfahrung vielschichtig ist. Insbesondere die Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener Sinneseindrücke macht eine Architekturerfahrung zu einem synästhetischen und immersiven, den Betrachter einschließenden Erlebnis.

Um diese Komplexität nun zumindest anfänglich zu durchdringen, nehmen wir uns im Laufe des Architekturstudiums in dafür vorgesehenen Lehrveranstaltungen einzelne Sinnesbereiche vor und verknüpfen diese mit ausgewählten künstlerischen Methoden. Die Sinneslehre Rudolf Steiners[5] und darauf aufbauenden Arbeiten u.a. von Herbert Hensel und Hans Jürgen Scheurle[6] sind uns dabei ebenso Richtschnur wie der aktuelle Diskurs zur Architekturwahrnehmung und -psychologie[7]

Sehen lernen

Wir fragen uns: Was sehen wir? Wenn wir versuchen, zu beschreiben, was wir sehen, verlassen wir in den allermeisten Fällen unbewusst bald den rein wahrnehmenden Bereich und beschreiben interpretative, gedachte und vorgestellte Elemente: Ich sehe einen Baum, ein Haus, ein Fenster, eine Tür. Es sind Begriffe, die wir benutzen, um dem einen Namen zu geben, was sich uns als Sinneseindruck entgegenstellt. Wenn wir streng bei dem bleiben, was wir wirklich sehen, können wir lediglich Substanzqualitäten, Materialeigenschaften, Farben, Lichtabstufungen umschreiben. Die gesehene Welt ist eine Welt visueller Qualitäten, bestehend aus Farben, Licht und Schatten. 

Als Unterstützung dieser Steigerung des Sehens zeichnen wir. Das Zeichnen führt meine Aufmerksamkeit in die gesehene Welt und zugleich in die zeichnende Hand. Wenn ich es schaffe, mich von der Vorstellung zu lösen, eine möglichst realistische Abbildung des Gesehenen zu erhalten, entsteht eine unmittelbare Verbindung von Gesehenem und dem Zeichnenden. Meine Aufmerksamkeit pendelt zwischen Objekt und Zeichnung und das Gefühl der Kongruenz wird zum Gradmesser der gelingenden Tätigkeit. Je mehr ich es schaffe, im Sehvorgang in das Gesehene aufzugehen, desto unmittelbarer und „richtiger“ wird die Zeichnung: Sie wird kongruent zu dem Gesehenen, ohne bloß ein Abbild zu sein.

Wir zeichnen im Architekturstudium von Anfang an und kultivieren dies auch auf Reisen und Exkursionen. Gerade im Zeitalter der digitalen Entwurfswerkzeuge bleibt das Zeichnen relevant, nicht nur als Darstellungs-, sondern aufgrund seiner erzieherischen Eigenschaft vor allem als grundlegende Wahrnehmungshilfe.

Wahrnehmen mit dem Leib

Das Erlebnis von Architektur geht weit über die rein visuell, Gestalten und Formen erfahrende Tätigkeit hinaus. Denn Architektur ist nicht in erster Linie Form, sondern Raum. Wir verstehen Raum dabei nicht als leeren Behälter, sondern mit Christopher Dell „als dynamische Konstellation, die performativ produziert wird.“[8] Die Raumwahrnehmung ist ein Zusammenspiel verschiedener Sinneseindrücke, die insbesondere aus der Selbstwahrnehmung der eigenen leiblichen Tätigkeiten resultieren. Wir unterscheiden dabei Körper von Leib: Der Körper ist das äußerlich wahrnehm-, mess- und wägbare Objekt, der Leib das sich innerlich erlebende, wahrnehmende und sich bewegende Subjekt.

Will man ein Gebäude in Gänze erfassen, ist es in der Regel zu groß ist, um es auf einen Blick, aus einer Perspektive zu greifen. Man muss sich im Gebäude bewegen, es in der Bewegung von verschiedenen Seiten begehen und über die Verknüpfung einzelner Erlebnisse als lebendiges Bild in sich aufbauen. Dabei wird man kontinuierlich leiblich angeregt und zur leiblichen Nachahmung aufgefordert. Die z.B. von Wolfgang Meisenheimer beschriebenen „Zeigequalitäten“ der Architektur, die Gesten und Choreografien des Raumes und der Raumabfolgen regen in uns Bewegungen an, über die wir innerlich Anteil nehmen an dem, was äußerlich vor sich geht[9]

Ein besonderes Augenmerk im zweiten Semester des Architekturstudiums legen wir auf die Sensibilisierung und Aktivierung dieser Leibwahrnehmung. Dafür unterrichten wir Feldenkrais, Bothmergymnastik und Spatial Dynamics ® (nach Jaimen McMillan), die, in unterschiedlicher Methodik und aus verschiedenen Hintergründen entstanden, Übungen anbieten zur Leib- und Raumwahrnehmung. Dabei gehen diese Übungen von einzelnen Menschen, seinem individuellen Verhältnis zum Raum aus, um in komplexeren Übungen auch soziale Beziehungen wie das Verhältnis von Nähe und Distanz zu thematisieren.

Wahrnehmung ist Berührung

Im Wahrnehmen nehmen wir Kontakt auf zur Welt. In jeder Sinneswahrnehmung findet eine Berührung statt, eine Begegnung des Eigenen mit dem Anderen. Am offensichtlichsten passiert dies beim Tasten, wo Selbst- und Welterfahrung unmittelbar miteinander verbunden werden. Dabei werden wir grundlegenden Oberflächenqualitäten gewahr wie Glätte, Rauhheit oder Festigkeit und versichern uns damit sowohl einer außer uns befindlichen als auch unserer eigenen Existenz. Für Juhani Pallasmaa ist diese Erfahrung des „In-der-Welt-Seins“ die grundlegende Aufgabe der Architektur[10].

Im Plastizieren mit Ton erfahren wir an den Grenzflächen unserer Haut unmittelbar dieses „Andere“. Wir erleben eine Steigerung zum Sehen und Zeichnen: Das Wahrgenommene widersetzt sich, ein Kräftespiel von Eindruck und Ausdruck, Weichheit und Härte beginnt. Fast beiläufig entsteht Form als Real-Bild dieser Aus- und „Ineinandersetzung“.

Wir verfolgen die Spur in Richtung grundlegender plastischer Phänomene wie konvex-konkax, organisch-kubisch, Innen-Aussen und wir entwickeln in freien Projekten sowohl ein Handwerkzeug als auch ein Gespür für Objektformen jeglicher Art. Als willkommener Ausgleich zum klassischen Entwurfsprozess geht dabei das Machen dem Planen voraus; das Vertrauen in die „manuelle Intelligenz“ wird gestärkt.

Architektur als Klang

Die visuelle Wahrnehmung steht uns beim Erleben von Architektur vielfach im Weg. Wir vertauschen Form mit Raum und verpassen das eigentlich Architektonische in der Wahrnehmung. Eine unmittelbare Begegnung mit Raum entsteht im Hören. Der Klang eines Raumes verrät mehr über seine Beschaffenheit, seine Proportionen und Dimensionen, seine Atmosphäre als die bloß sichtbaren Bestandteile. Im Hören erleben wir Tiefe, statt sie bloß perspektivisch verkürzt zu sehen. 

„Sehen isoliert, hören hingegen nimmt auf und schließt ein; Sehen ist ein streng ausgerichteter Vorgang, Hören dagegen nimmt Reize aus allen Richtungen auf. Der Sehsinn impliziert eine Außenwelt, Töne und Geräusche schaffen dagegen eine Innenwelt. (…)

Hören strukturiert unser Raumverständnis und verleiht unserer Raumerfahrung eine akustische Form. (…) Sehen ist die Wahrnehmungsform des einsamen Beobachters, wohingegen Hören ein Gefühl der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit schafft. (…) Wir berühren die Grenzen des Raumes, wenn wir ihn hören.“[11]

In Lehrveranstaltungen zu Klang und Raum hören wir zunächst den Raum und identifizieren Klänge im gebauten oder öffentlichen (Aussen-)Raum. Wir versuchen mithilfe der Klangbeschreibungsmethode von R. Murray Schafer, dem Begründer der soundscape Forschung[12], einzelne Klangereignisse nach Parametern zu beschreiben. Wir erzeugen selbst Klänge und entdecken die Wechselwirkungen mit dem Raum. Wir entwickeln schließlich eigene Klanginstallationen, die den vorhandenen Raumeindruck erneuern, steigern, konzentrieren.

Ganzheiten bauen

Die größte Herausforderung im Architekturstudium besteht darin, reale und nicht nur simulierende Raumgestaltungserlebnisse zu haben. Als entwerfende ArchitektInnen sind wir fortwährend simulierend tätig. Wir stellen uns und anderen in den Darstellungsformen, die wir wählen (Grundrisse, Schnitte, Lagepläne, Modelle, Computersimulationen etc.) eine gebaute Zukunft vor, die noch nicht real ist. Wir versuchen, die später zu realisierende Ganzheit in ihren wesentlichen Merkmalen vorwegzugreifen und können uns dabei nur unzureichender Hilfsmittel bedienen.

Mit räumlich, zeitlich und thematisch begrenzten Interventionen und Rauminstallationen nähern wir uns dem Raum im realen Maßstab 1:1. Wir entwerfen im direkten Gestalten von Raum und lassen uns unmittelbar vom momentanen Ergebnis anregen, den Entwurf anzupassen. Dem anfangs beschriebenen Pendelschlag zwischen Produktion und Rezeption, Gestalten und Wahrnehmen, kommen wir im architektonischen Medium „Raum“ so am Nächsten. Wir bemühen keine intermediäre Darstellungstechnik, die bloß Verweis auf das später zu realisierende Raumkonstrukt ist, sondern arbeiten „in medias res“. Zugleich erleben wir die Komplexität der Raum- und Architekturerfahrung im eigenen Tun. Wie in einem Mobilé werden die Bestandteile der Raumgestaltung austariert und zu einer stimmigen Gesamtkomposition verdichtet. Wir versuchen so, der Unteilbarkeit von Architektur gestaltend und erlebend auf die Spur zu kommen. 

Mensch und Architektur

Neben der experimentellen und explorativen Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Architektur schreiben wir in Kooperation mit dem Studium Generale, dem philosophischen und ästhetischen Bildungsangebot aller Studiengänge der Alanus Hochschule eigene wissenschaftliche Hausarbeiten zur Fragestellung. Hier werden ausgewählte Positionen zur Wahrnehmungslehre reflektiert und in Beziehung gesetzt zu den eigenen Erfahrungen im Entwerfen und Erleben von Architektur.

Wenn Architektur, wie Rasmussen eingangs beschreibt, etwas Unteilbares ist, dann schließt sie uns als Menschen mit ein. Sich dieser Wechselwirkungen zwischen Mensch und Architektur immer wieder wahrnehmend bewußt zu werden, ermöglicht uns so Selbst- und Welterkenntnis. 


[1] Steen Eiler Rasmussen: ›Architektur Erlebnis‹, Stuttgart 1980; S. 9

[2] Johann W. v. Goethe: Faust. Eine Tragödie erster Teil, München 1993; S. 58

[3] Steen Eiler Rasmussen: ›Architektur Erlebnis‹, Stuttgart 1980; S. 9

[4] Peter Zumthor: ›Die Magie des Realen‹, in: ›Architektur Denken‹, Basel 2003; S. 83f.

[5] Rudolf Steiner: „Anthroposophie. Ein Fragment (GA 45)“, Dornach 2002 und Rudolf Steiner: „Von Seelenrätseln (GA 21), Dornach 1983

[6] Hans Jürgen Scheurle: „Die Gesamtsinnesorganisation. Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre“, Stuttgart 1984

[7] Z.B. Alexandra Abel und Bernd Rudolf: (2019) „Architektur wahrnehmen“, Bielefeld, 2019 oder Jörg Grütter, „Grundlagen der Architektur-Wahrnehmung“, Wiesbaden, 2015.

[8] Christopher Dell: ›Wissen des Urbanen‹, in: ›Auf dem Weg zur Stadt als Campus‹, Berlin 2015; S. 41.

[9] Wolfgang Meisenheimer: „Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Werkzeug – Denkzeug“, Köln 2014

[10] Juhani Pallasmaa: „Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne“, Los Angeles 2013, S. 14

[11] Ebd., S. 62f.

[12] Raymond Murray Schafer: „Die Ordnung der Klänge: eine Kulturgeschichte des Hörens.“ Mainz, 2010

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