Architektur ganztags! Spielräume für kulturelle Bildung

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Architektur und Natur
Dipl.-Ing. Bettina Gebhardt, Prof. Dipl.-Ing. Willem-Jan Beeren

In: Dokumentation der Internationalen Tagung zur Architekturvermittlung – gemeinsame Veranstaltung des Deutschen Architekturmuseums, der Wüstenrot Stiftung und des Hessischen Kultusministeriums.

kopaed-Verlag, 2013

Mensch Natur und Technik

Die Natur ist jedem Menschen zugänglich. Ihre Ästhetik ist visuell und physisch erlebbar und sie bietet intelligente Lösungen. Sie eröffnet einen Zusammenhang zwischen biologischen Formen, Strukturen und deren Funktion. 

Prinzipien, Problemlösungen aus der Natur lassen sich auf Bauweisen übertragen.

Natürliche Konstruktionen geben Anregungen für technische Umsetzungen, wie z.B. Spinnennetze für Seilkonstruktionen. (Baubionik)

In der Vermittlungsarbeit eröffnet die Schnittstelle zwischen Architektur und Natur einen Zugang zu konstruktiv technischen wie auch formal ästhetische Prinzipien, nachvollziehbar an bekannten Beispielen und in architektonisch-räumlichen Experimenten. 

Einleitend wurden die Teilnehmer in die Dauerausstellung des Museums geführt. 

22 großformatige Modelle bieten einen Überblick über bedeutungsvolle Stationen der Bau- und Kulturgeschichte  „Von der Urhütte zum Wolkenkratzer“

Ein Fragebogen lenkte die Teilnehmer des Forums chronologisch durch die Ausstellung 

und regte an die Bauten in Bezug auf ihr Verhältnis zur Natur zu betrachten.

Kleine Abbildungen verwiesen dabei sinnbildlich auf Zusammenhänge:

Muschelschale l Natur und Funktion 

Viele Schneckenarten haben ein Haus, das ihnen Schutz bietet. 
Der Mensch suchte zunächst Schutz vor Witterung und Feinden in natürlich vorgefundenen Höhlen. Die Anfänge der Architektur jedoch sind gekennzeichnet durch die Herstellung künstlicher Behausungen. Entsprechend zeigt das Modell eine Schutzhütte, Terra Amata bei Nizza, um 400.000 v. Chr. – eine von Menschen errichtete Konstruktion aus Holz, Laub und Steinen. 

Waben l Natur und Ordnungssysteme

Eine Bienenwabe besteht aus Reihen regelmäßig angeordneter, nahezu identischer Kammern. 
Das Modell zeigt Catal Hüyük, um 6500 v. Chr., eine der ersten bekannten Städte in Südanatonlien. Die Stadt bestand aus (recht)eckigen, zellenartig aneinander gebauten Einraumhäusern mit einer Einstiegsluke im Dach. Dicht zusammengedrängt bildeten die geschlossenen abweisenden Wandflächen Schutz vor fremden Eindringlingen und Überschwemmungen.

Pi l Naturwissenschaft und Einfluss 

Die Verhältniszahl Pi war bereits  den Ägyptern zur Zeit des Pyramidenbaus bekannt. Beispielhaft steht sie für naturwissenschaftliche Beobachtungen und daraus resultierende Gesetzmäßigkeiten.

Die 3 Terrassentempel von Der el-Bahari befinden sich in einem Felsenkessel und fügen sich in besonderer Weise in die Landschaft ein. Beobachtungen der Natur und daraus resultierende Erkenntnisse in den Gebieten der Mathematik und Astronomie beeinflussten Bauweise und Ausrichtung dieser Monumentalbauten.

Wasser l Natur als Lebensquell

Die Technik der Wasserversorgung im römischen Reich ist wichtiger Bestandteil ihrer Kultur.

Das Modell zeigt einen Ausschnitt der Stadt Pompeji. Das Regenwasser der Stadthäuser wurde zunächst über schräg nach innen geneigten Pultdächer im Atrium gesammelt und dann in eine Piscina abgeleitet. Später versorgten Aquädukte die Städte mit Wasser und Kanalisationen entsorgten diese. Privatbäder, Therme und Brunnen wurden über Gefälle und manuelle Pumpen mit Wasser gespeist.

Landschaft l Architektur und Landschaft/ Gesellschaft

Als die Seemacht im 16 Jht in Italien zunehmend an Bedeutung verliert, wenden sich die venezianischen Kaufleute verstärkt der Landwirtschaft zu. Die Villa, ein vor den Stadtmauern gelegenes Landhaus, gehörte neben dem Palazzo zu den wichtigen Bauaufgaben der Renaissance. Das Modell zeigt die Villa Badoer am Ufer des Scortico gelegen. Andrea Palladio entwirft diese Stadtvilla im Auftrag des venezianischen Edelmanns Franceso Badoer. Der Bau scheint die Landschaft zu umarmen, bildet eine Synthese aus landwirtschaftlichem Gutshof und einem repräsentativem Herrenhaus.

Blattgerippe l Architektur und Bionik

Das Tragwerk eines Stahlskelettbaus ist vergleichbar mit dem Gerippe eines Blattes.

Ein Modell zeigt den Londoner Kristallpalast, eine Ausstellungshalle, die aus Anlass der Weltausstellung in London 1851, vom Landschaftsgärtner Joseph Paxton entworfen wurde.

Der erste öffentlichen Bau aus filigran anmutenden Gusseisenstäben und füllenden Glasfeldern eröffnete in seiner Dimension die Möglichkeit die Natur zu ummanteln. Glaspassagen in Mailand, Projekte mit künstlichen Klimahüllen folgen. 

Spielwiese l Natur und Wohnqualität

Kinder treffen sich auf gemeinschaftlicher Fläche zum Spiel.

Das Modell zeigt die Siedlung Bruchfeldstraße, die wegen der Drehung der Bauten um 45 Grad auch ZickZackhausen genannt wird.1925 initiierte Ernst May als Stadtbaurat und Leiter des Hochbau – u Siedlungsamtes ein städtisches Wohnungsbauprogramm mit dem Ziel der Wohnungsnot entgegen zu wirken – Das Neue Frankfurt. Innerhalb von 5 Jahren entstanden 12000 Wohnungen. Die Wohnungen waren mit Zentralheizung, Bad und Frankfurter Küche ausgestattet. Unter dem Motto: Licht, Luft und Grün“ entstanden lange Wohnzeilen umgeben von großen Gartenhöfen, Gebäudeform und Organisation auf dem Grundstück sollte die Wohnungen optimal belichten. Grün- und Freiflächen erfüllten auch eine soziale Funktion.

Pflanze im Schutz einer Hand l Nachhaltigkeit

Das Modell zeigt den Commerzbank Tower Frankfurt, entworfen von dem britischen Architekten Sir Norman Foster. Eine nachhaltige Gebäudetechnik sollte langfristig die Instandhaltungskosten gering halten.Die doppelschalige Klimafassade und 9 spiralförmig angeordnete Gärten ermöglichen eine weitgehend natürliche Belüftung und optimierte Klimatisierung des Gebäudes. 

Mensch und Natur im Spiegel der Architektur

Nach der architekturgeschichtlichen Annäherung an das Thema über die Modellausstellung wurde ein phänomenologischer Überblick über die Beziehung von Mensch und Natur durch das Medium Architektur gegeben: Der Mensch braucht zur physischen, psychischen und mentalen Existenz eine „gemittelte“, auf seine Maßstäbe ausgerichtete Umwelt, die künstlich hergestellt wird. Diese menschlich-künstliche Umwelt drückt sich in der Architektur aus. Die Art dieses Ausdrucks kann sehr unterschiedlich sein, z.B. imitierend-abbildend (Vergl. Jugendstil), nachvollziehend-prozesshaft (sog. „Organische Architektur“, vergl. Sullivan, Wright, Häring), übertragend-technisch (vergl. Bionik) oder kontrastierend-geometrisch (vergl. „International Style“). Allen gleich ist die architektonische Raumbildung, die einerseits Naturraum zurückdrängt, andererseits Kunstraum einbettet in einen natürlichen Kontext. Diese architektonische Raumbildung entsteht additiv-zusammenfügend (aus Bauteilen, Bauelementen, Baumaterial), weist aber über die sie begrenzenden Teile (Wände, Decken, Böden etc.) hinaus auf eine Atmosphäre des Beheimatetseins (vergl. Heidegger). 

Raumaneignung

Der dritte Teil des Workshops bestand aus einer experimentellen Eigenarbeit. Aufgabe war die modellhafte Erarbeitung eines architektonisch-künstlerischen Raumes zwischen Einbettung und Abgrenzung. Dafür wurde von den Teilnehmern jeweils eine vorhandene Raumsituation (eine Raumecke, eine Treppe, ein Möbelstück o.ä.) ausgewählt und in diese eine neue Struktur eingefügt, die das Bestehende einerseits fortführen und sich andererseits von dieser absetzen sollte. Als Material standen Pappen, Holzleisten, Band und Draht zur Verfügung. Innerhalb kurzer Zeit entwickelten sich sehr individuelle Rauminterventionen, die auf spielerische und individuelle Weise die zuvor reflektierten Themen im Spannungsfeld Mensch-Architektur-Natur aufgriffen. In der experimentellen Auseinandersetzung erfuhr der Workshop eine erfahrungsgeleitete Vertiefung, die dem Thema angemessen scheint. Architektur als zweite Natur bildet den Lebensrahmen der Menschen, eine Auseinandersetzung mit ihr wird zugleich eine Begegnung mit dem eigenen Menschsein.